Mentale Gesundheit: Wie geht es unserer Gesellschaft?

Ist Stress ein Statussymbol oder Krankmacher? Und welche Auswirkungen haben Krisen auf unsere psychische Gesundheit? Neurologe Dr. Wolfgang Lalouschek erzählt uns, warum Stress heute oft ganz subtil daherkommt.

Zwei Frauen sitzen sich gegenüber und halten sich an den Händen

Eine Gallup Studie im Herbst 2022 zeigte, dass 62 Prozent der Befragten hierzulande ihr aktuelles mentales Befinden zwar als (sehr) gut beurteilen, jeder Vierte nahm allerdings eine Verschlechterung seines mentalen Gesundheitszustands innerhalb der vergangenen zwölf Monate wahr. Über die Ursachen für diese subjektiv empfundene Verschlechterung lässt sich spekulieren. Womöglich haben Menschen eine bessere Wahrnehmung ihrer eigenen Befindlichkeit entwickelt, oder mentale Störungen haben gesamtgesellschaftlich an höherer Akzeptanz gewonnen, oder – last but not least – haben sich die Belastungen für den Einzelnen verändert. 

Hilflosigkeit statt Zielorientierung

Neurologe Wolfgang Lalouschek: „Die Kriegsgeneration stand vor existenziellen Herausforderungen und musste um ihr Überleben kämpfen. Aber sie baute das Land nach der Katastrophe wieder auf, hatte dadurch ein Ziel vor Augen, eine Perspektive, und wusste, dass es zunehmend besser werden würde. Bei uns heutzutage ist es umgekehrt. Durch die Pandemie, den Ukrainekrieg und die Inflation erleben wir den Verlust unseres Wohlstands und unserer Sicherheit, zusammen mit dem Gefühl, dass wir die Dinge nicht beeinflussen können, also von Hilflosigkeit. Das Gefühl, ausgeliefert und nicht handlungsfähig zu sein, ist psychologisch gesehen das Schwierigste, das es gibt. Und diese äußeren Umstände ergeben zusammen mit unseren Gefühlen der Ohnmacht eine krankmachende Mischung und eine andere Form der Belastung als es die für unsere Großeltern war.“ 

Der subkutane Stress

„Dazu kommt, dass wir im Zeitalter der Ablenkung leben: Die Unterbrechungen durch elektronische Geräte verhindern, dass wir Dinge zu Ende bringen und Erfolgserlebnisse haben. Auch kommt unser Gehirn nicht zur Ruhe, es kann nicht mehr regenerieren und schüttet auch weniger Glückshormone aus. Die Folge ist eine ermüdete Gesellschaft und die ständige Ablenkung ein Faktor, der mit einer massiv verschlechterten psychischen Befindlichkeit einhergeht“, so der Neurologe. 

Bedeutete es vor einigen Jahrzehnten noch, Stress zu haben, weil man viel arbeitete, kommt dieser heutzutage viel subtiler daher. Die Mischung der genannten Faktoren zu einer Art „Zermürbungs-Cocktailerzeugt subkutanen Stress – und das sei, so Lalouschek, auf Dauer Gift für die psychische Gesundheit. „Wenn ich weiß, ich muss in den nächsten Jahren 60 Stunden pro Woche arbeiten, um etwas aufzubauen, dann ist dieser Stress ein greifbarer Faktor. Aber allgemeine Ängste vor einer Pandemie oder sozialem Abstieg nisten sich viel unbemerkter in unserer Psyche ein und stressen uns.“ 

Bedeutungsveränderung von Stress

Jeder Dekade ihre Themen und Typen. In den 1990er Jahren waren es die Yuppies und deren Arbeitsstress galt als chic und Lifestylefaktor. Rund 20 Jahre später sah es schon anders aus, als das Thema Burnout mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein und die Mitte der Gesellschaft rückte. Nun, wo die Generation Z (Geburtsjahr 1995-2012) auf den Arbeitsmarkt drängt, erlebt Stress scheinbar einen weiteren Bedeutungswandel. So spielen ein sicherer Arbeitsplatz und das Gehalt zwar auch für die Jungen weiterhin eine Rolle, aber „beim Gehalt sind sie bereit, Konzessionen in Kauf zu nehmen, wenn sie dafür beispielsweise nur 30 Stunden arbeiten“, wie AMS-Chef Johannes Kopf in einem Interview sagt. Auch würden Betriebe von der starken Nachfrage nach Blockzeit-Vereinbarungen und der Möglichkeit nach einer Auszeit berichten. 

Brandbeschleuniger COVID-19

Die Nachwirkungen der Corona-Pandemie gelten in diesem Zusammenhang noch als große Unbekannte, als Faktor, dessen Auswirkungen auf die mentale Gesundheit der Österreicher:innen aktuell noch nicht absehbar ist. So brachte das Virus durch Vereinsamung und Ängste nicht nur einen Anstieg von psychischen Erkrankungen, sondern auch die Infektion selbst führte bei Betroffenen in manchen Fällen zu Veränderungen im Gehirn.  

Ein Schwerpunktthema von Lalouschek sind diese psychischen Folgen und das Fazit seiner Beobachtungen lautet: „Bei Menschen, die bereits zuvor erhebliche psychische Belastungen hatten, hinterließ eine Covid-Infektion häufig messbare degenerative Veränderungen im Gehirn: in Arealen, die für komplexe Gehirnleistung zuständig sind sowie im limbischen System, in dem es um Gefühlsverarbeitung geht. Wenn etwa jemand vor einer Infektion bereits nahe am Burnout war, niedergedrückt und antriebslos, konnte er das vor seiner Erkrankung vielleicht noch kompensieren. Weil aber das Virus zentrale Areale der Emotionsverarbeitung im Gehirn angegriffen hat, war er nach der Erkrankung vollständig seinen negativen Gefühlen ausgesetzt. In seiner Krankheitsentwicklung hat Covid damit quasi wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Dasselbe gilt auch für Menschen mit anderen psychischen Störungen wie Schlafstörungen, Angststörung oder Depressionen. Umso wichtiger ist daher eine aktive und gezielte Behandlung auf der psycho-neurologischen Ebene.“

Univ.-Prof. Dr. Wolfang Lalouschek
Univ.-Prof. Dr. Wolfang Lalouschek

Zur Person: 

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Lalouschek ist Facharzt für Neurologie, systemischer Coach und medizinischer Leiter des Gesundheitszentrums „The Tree“, einem interdisziplinären Gesundheitszentrum für Stressbewältigung und Burnout. 


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