Kinder in der Krise – was ihnen jetzt Halt gibt

Kinder und Jugendliche sind während der Corona-Pandemie stark belastet. Speziell die Maßnahmen – Lockdowns, Homeschooling, Masken – haben inzwischen tiefe Spuren hinterlassen. Immer neue Untersuchungen zeigen: Ängste, depressive Verstimmungen, Ess- und Schlafstörungen nehmen dramatisch zu. Was Kinder jetzt stärkt und unterstützt.

Trauriges Mädchen

„Ich liege manchmal am Abend im Bett und frage mich, wann ich wieder normal leben kann. Warum können Erwachsene erst jetzt fragen, wie es den Kindern geht. Uns geht es ja auch nicht gut mit Corona. Es werden in den Nachrichten so oder so immer nur Erwachsene gefragt, wie es ihnen geht und da habe ich das Gefühl, dass Kinder nicht wichtig sind. Aber wir sind auch in dieser Pandemie.“ 

Kinderstimme aus der Online-Befragung „Jetzt sprichst Du!“

Nach mehr als einem Jahr im Ausnahmezustand ist inzwischen jedes Kind betroffen. Davon ist Daniela Renn, Klinische und Gesundheitspsychologin sowie Leiterin des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen in Tirol (BÖP Tirol), überzeugt. „Die sekundären Schäden, die hier angerichtet wurden und werden, sind enorm“, unterstreicht sie.

Ein Jahr in einem Kinderleben ist zudem ein deutlich längeres Intervall als für Erwachsene – für Zehnjährige geht es immerhin um ein Zehntel ihres bisherigen Lebens. „Die Maßnahmen gehen auf Kosten der Kinder“, beobachtet auch Kathrin Sevecke, Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall und in Innsbruck

Sorgen und Konzentrationsstörungen 

„Mittlerweile zeigen rund 15 Prozent der Kinder zwischen drei und zwölf Jahren klinisch relevante Symptome – im Frühjahr 2020 waren es noch drei Prozent“, verweist Psychiaterin Sevecke auf eine Studie der Medizinuniversität Innsbruck und den tirol kliniken. „Vor allem Mädchen berichteten über Angst, Sorgen und körperliche Symptome wie Bauchweh und Schlafstörungen. Buben würden zusätzlich Konzentrationsstörungen und Aufmerksamkeitsprobleme angeben.“ Auch könnten die Kinder beim Fernunterricht ihre Leistungen immer schlechter abrufen.

Wütend, traurig und genervt 

Im Rahmen der Online-Befragung „Jetzt sprichst Du!“  haben Manuel Schabus und Esther-Sevil Eigl von der Universität Salzburg Kindern und Jugendlichen eine Stimme gegeben: 79 Prozent der 531 befragten Volksschulkinder geben an, dass es ihnen schlechter als früher geht. Jedes dritte Kind fühlt sich öfter wütend oder genervt, jedes fünfte fühlt sich traurig oder einsam. Unter Angst aufgrund der aktuellen Lage leidet gar jedes zweite Kind, unter Schlafstörungen jedes dritte: „Für dieses junge Alter ist das sehr ungewöhnlich“, unterstreicht der Psychologe Schabus. 

„Ich finde, oft wird unterschätzt, wie viel Druck auf unseren Schultern liegt. Ich kenne kaum jemanden in meiner Generation, der nicht den Hauch von einer Depression hat oder ähnlichem – wir müssen mit viel mehr klarkommen, als alle denken.“ 

Kind in „Jetzt sprichst Du!“

Depressionen und Ängste stark verbreitet

Auch die Jugendlichen leiden: Mehr als die Hälfte der Schüler und Schülerinnen ab 14 Jahren weisen eine depressive Symptomatik auf, rund die Hälfte zeigt Angstsymptome und etwa 16 Prozent der Jugendlichen haben suizidale Gedanken. Das sind die alarmierenden Ergebnisse einer Studie der Donau-Universität Krems . Die Anzahl junger Patientinnen und Patienten in Kinder- und Jugendpsychiatrien ist seit Krisenbeginn dramatisch angestiegen. Unterschiedliches Suchtverhalten (Spielen, Konsum von Süßigkeiten und Alkohol) und Essstörungen nehmen stark zu. 

Soziale Kontakte fehlen massiv

Was den Kindern besonders fehlt? Am meisten vermissen sie die Normalität des Alltags, geben sie in der Online-Studie „Jetzt sprichst Du!“ an. Jeweils rund ein Drittel wünscht sich, öfter Sport mit anderen Kindern treiben zu können, ohne Maske zu sein, die Gesichter der Menschen sehen zu können und Freunde uneingeschränkt treffen zu können. „Was den Kindern fehlt sind Bewegung und Begegnung – genau das ist es leider, was durch die gesetzlichen Beschränkungen weitgehend unterbunden wird“, unterstreicht Schabus.

„Menschen sind von Anfang an soziale Wesen. Es ist keinem Baby möglich, ohne Kontakt zu anderen zu überleben. Das begleitet uns unser ganzes Leben lang“, erklärt die Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin Renn. Um sich seelisch gesund zu entwickeln, brauchen sie in allen Entwicklungsphasen – vom dritten bis zum 18. Lebensjahr – ein soziales Umfeld außerhalb ihrer Familien. „Schulen, Sportvereine oder Ferienbetreuungen müssen daher umgehend wieder den Vollbetrieb aufnehmen“, fordert Sevecke. 

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ohne Corona mich schon weiterentwickelt hätte. Ich vermisse deshalb den Kontakt mit Menschen sehr. Weil ich orientiere mich ja auch an anderen Menschen, neusten Trends usw. Das fehlt mir sehr.“ 

Kind in „Jetzt sprichst Du!“

Verlust der Tagesstruktur

Mit dem Schulalltag gehen nicht nur wichtige soziale Kontakte, sondern auch die regelmäßige Tagesstruktur verloren. Stattdessen verbringen die Kinder zuhause viele Stunden online – durchschnittlich sind sie täglich wenigstens fünf Stunden am Handy. Mit steigendem Handykonsum wächst nicht nur das Risiko für psychische Probleme, mit der Inaktivität kommt auch ein wichtiges Stressventil – die Bewegung im Freien – abhanden.  „Sport und Bewegung im Freien schaffen einen körperlichen Ausgleich, der auf Schlaf- und Konzentrationsprobleme sehr gut wirkt“, betonen Renn und Sevecke unisono. 

„Man ist nur mehr am Handy und Computer. Es fühlt sich wirklich wie eine Sucht an. Man will nichts anderes mehr machen, ist ständig abgelenkt und macht beim Unterricht nicht richtig mit.“ 

 Kind in „Jetzt sprichst Du!“

Belastende Botschaften

Neben den schwierigen Rahmenbedingungen setzen bestimmte mediale Botschaften vielen Kindern zu: Schon früh in der Pandemie wurde ihnen etwa vermittelt, dass sie potenziell gefährlich für Großeltern oder Risikopersonen werden können. „Ein Kind bezieht entwicklungspsychologisch alles auf sich“, erklärt Renn. „Aus den Warnungen hört es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit heraus: Ich bin verantwortlich dafür, wenn andere erkranken oder sogar sterben.“ Es sei nicht verwunderlich, dass Kinder depressiv verstimmt sind und sich zurückziehen. Manche wollen inzwischen das Haus nicht mehr verlassen – aus Angst, andere Menschen zu gefährden.

„Ich finde diese Angstmache einfach schrecklich! Es wird alles so übertrieben, dass man Ängste entwickelt, obwohl man gar nicht möchte. Ich bin psychisch krank geworden und kann gar nichts dagegen tun. Muss zu ganz vielen Gesprächen, Therapien, Untersuchungen und muss sogar Tabletten nehmen.“ 

Kind in „Jetzt sprichst Du!“

Kindgerecht informieren 

„Ganz konkret unterstützt man Kinder, indem man ihnen die Information über diese Rahmenbedingungen kindgerecht zukommen lässt“, erklärt Renn. „Das bedeutet auch, Kinder zu schützen und sie so gut wie möglich vor einer Überinformation zu bewahren.“ Aus psychologischer Sicht sehr kritisch zu beurteilen sei zudem die „Salamitaktik“, mit der im abgelaufenen Jahr immer neue, schärfere Maßnahmen – vom Mund-Nasen-Schutz bis zu den Coronatests an den Schulen – eingeführt wurden und an die wir uns scheibchenweise gewöhnt haben. „Eltern sollten den Kindern vermitteln: Das, was wir derzeit erleben, ist nicht die Normalität“, unterstreicht die Psychologin, die sich zudem kritische Eltern wünscht. „Kritisch zu sein, bedeutet nicht, dagegen zu sein, sondern ein Problem von unterschiedlichen Blickwinkeln aus zu betrachten.“ 

Kindeswohl in den Fokus rücken

Generell müsse der Fokus in der Krise viel stärker auf das Wohl von Kindern und Jugendlichen gelegt werden, fordern immer mehr Expertinnen und Experten. „Beim Treffen weiterer Maßnahmen oder Verschärfungen muss die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen in die Risiko-Nutzen-Abwägung miteinbezogen werden“, betont Kinder- und Jugendpsychiaterin Sevecke. 

Fünf Tipps: Was Kinder stärkt und unterstützt

  • Tipp 1: Routine, Strukturen und Regeln geben Sicherheit. Ein geregelter Tagesablauf tut Kindern wie Eltern gut. Speziell bei Jugendlichen sollte auf die Einhaltung des Tag-Nacht-Rhythmus und auf ausreichend Schlaf geachtet werden.
  • Tipp 2: Kontakt zu lieben Menschen halten. Stabile soziale Beziehungen sind jederzeit essentiell. Mit Bezugspersonen, die sie während der Krise nicht sehen, könnten Kinder per Telefon oder Skype in Kontakt bleiben. Wo immer möglich, sollte vermehrt der persönliche Kontakt (z. B. im Freien) gesucht werden. 
  • Tipp 3: Gefühle in der Familie frei äußern. Ärger, Gereiztheit oder Traurigkeit sind derzeit Begleiter vieler Kinder. Eltern können ihnen helfen, die Gefühle zu benennen und konstruktiv damit umzugehen. Auch alle Fragen sollten willkommen sein – Eltern nehmen sich idealerweise Zeit, diese in Ruhe zu beantworten und irrationale Ängste zu nehmen. 
  • Tipp 4: Zuversicht schenken. Wenn Kinder traurig sind oder einen Durchhänger haben, könnten die Eltern mit ihnen überlegen, was genau sie belastet. Gemeinsam bespricht man, wie sich die Situation meistern lässt – und worauf man sich schon freut. 
  • Tipp 5: Ablenkung tut gut. Spiele und lustige Filme, ein Spaziergang oder ein Picknick bringen Abwechslung und Freude in den Alltag. Rituale (z. B. eine Gute Nacht-Geschichte) vor dem Schlafengehen helfen Kindern, ruhig und entspannt einzuschlafen. 

Hilfe und Rat für Groß und Klein

Hotlines stehen Kindern und Eltern mit Rat und Hilfe zur Seite. In schweren Fällen sollte jedenfalls professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.

Rat auf Draht 
Telefonische, Chat- und Online-Beratung für Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen
Telefon: 147, rund um die Uhr, kostenlos

BÖP-Helpline
Helpline des Berufsverbanden Österreichischer PsychologInnen  
Mo-Fr 9-16 Uhr, Telefon: 01504 8000.

KINDER-SCHÜLER-ELTERN Beratungshotline
Hotline des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP)
Mo-Fr, 14:00-16:00 Uhr, Tel: 0512 56 17 34

Telefonseelsorge
Telefonische und Online-Beratung, Tel. 142, rund um die Uhr, kostenfrei

www.psychnet.at
Hier finden Sie klinische und Gesundheitspsychologinnen und -psychologen in freier Praxis und erhalten psychologische Online-Beratungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus

Kids-Line: https://www.kids-line.at/

Quellen: 

(1) www.sleepscience.at
(2) https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3795639
(3) http://www.tirol-kliniken.at/page.cfm?vpath=standorte/landeskrankenhaus-hall/medizinisches-angebot/kinder--und-jugendpsychiatrie/covid-19-kinderstudie

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